Sie haben meinen Sohn getötet
Ganhar a vida/Gagner la vie
Portugal/Frankreich 2001
Produktion: Madragoa Filmes/ICAM/Gémini Films/RTP/La Sept-Arte
Produzent: Paulo Branco
Regie: João Canijo
Buch: João Canijo, Celine Pouillon, nach einer Geschichte von Pierre Hodgson
Kamera: Mário Castanheira
Musik: Alexandre Soares
Schnitt: João Braz
Darsteller: Rita Blanco (Cidália), Adriano Luz (Adelino), Teresa Madruga (Celestina), Alda Gomes (Alda), Olivier Leite (Orlando)
Länge: 110 Min. (TV)
Ausstrahlung: 18.08.2001 in arte
Eine portugiesische Gemeinde am Stadtrand von Paris: Cidália lebt mit ihrem Mann Adelino, den beiden Söhnen und ihrer Schwester Celestina in einer Sozialwohnung. Frühmorgens fährt sie mit anderen Frauen zur Arbeit ins Zentrum. Ihr ältester Sohn, Alda, hängt mit gleichaltrigen Franzosen auf der Straße herum und ist in Drogengeschäfte verwickelt. Eines Tages kommt es zu einem Schusswechsel mit der Polizei, bei dem der junge Portugiese getötet wird. Cidália schluckt die Trauer und den Schmerz im ersten Moment hinunter, möchte dann aber die Hintergründe des Vorfalls klären. Auf der Polizeiwache erklärt man ihr, dass ihr Sohn nicht durch eine Kugel der Ordnungshüter gestorben sei. Unzufrieden mit dieser Antwort, bricht die Frau das Gesetz des Schweigens. Ihr Protest mit anderen Frauen vor der Polizeistation bringt die Emigranten in Gewissenskonflikte, da diese sich als Gäste in Frankreich betrachten und keine Unannehmlichkeiten. wollen
Obwohl sie ihr Mann unterstützt, ziehen sich viele Freunde von Cidália zurück. Sie jedoch ignoriert die Beschwichtigungsversuche und beharrt darauf, die Wahrheit über Aldas Tod herauszufinden. Selbst als der wahre Täter, mit dem sie um der Wahrheitsfindung willen ein Verhältnis beginnt, die Tat gesteht, bleibt ohnmächtiger Zorn zurück. Da sie sich weigert, mit ihrem Mann nach Portugal zurückzukehren, reist er mit dem jüngeren Sohn ab, während Cidália allein zurück bleibt.
"Sie haben meinen Sohn getötet" ist ein Sozialdrama, inszeniert mit den kalten Farben und der spröden Ästhetik des neuen portugiesischen Kinos. Der ausschließlich mit der Handkamera und auf Video gedreht ist Film anfangs häufig durch abrupte Zwischenschnitte unterbrochen. Seine in Blau und Rot, manchmal auch in Sepiafarben getauchten, zudem sparsam ausgeleuchteten Bilder hinterlassen den Eindruck einer kalten, düsteren Atmosphäre. Drei Jahre nach dem Publikumserfolg seines mit Kritikerlob überhäuften Films "Sapatos pretos" erzählt Canijo eine realistische Geschichte aus der Unwirtlichkeit der Pariser Vorstädte, wo die stoische Passivität seiner Landsleute eine tiefe Identitätskrise auslöst. Zwischen Fatalismus und aufrechtem Gang pflegen die portugisischen Immigranten das romantische Bild einfacher, strebsamer und katholischer Menschen. Auch nach 30 Jahre ohne engeren Kontakt zur Heimat sind sie froh, draußen französisch und zu Hause nur portugiesisch zu sprechen. Ihre Sicht auf Portugal ist von der Endphase des Salazar-Regimes und seiner Ideologie bestimmt. Die Jugendproblematik in den Großstädten erhält so zusätzlich einen sozialethnischen Aspekt: Ohne Bindung an die Heimat ihrer Eltern noch an die französische Gesellschaft trifft die Kinder das harte Los der zweiten oder dritten Generation. Mindestens drei Millionen Portugiesen - fast ein Drittel der im Mutterland lebenden Einwohnerschaft - leben in Frankreich. Bislang existierte weder ein französischer noch ein portugiesischer Spielfilm über diese unbekannte Welt. Canijo beschreibt eine konservative, geschlossene Gemeinschaft, die unter sich bleibt, versteckt in Sozialbauwohnungen, und nur zum Sonntagsgottesdienst oder bei Folkore- und Tanzveranstaltungen erwacht. Die Erschütterung ihrer kulturellen Identität führt zum individuellen Konflikt, zur Tragödie, wobei die Männer ohne Verständnis, die Frauen stumm protestierend reagieren.
Canijos Film entzaubert Tabus und Klischees. Seine Protagonistin, von Rita Blanco mit Verve und Engagement gespielt, lässt er als einzige zu neuen Ufern aufbrechen, die sich allen gutgemeinten Ratschlägen widersetzt. Bestes Beispiel für den kulturellen wie individuellen "Clash" der Generationen und Geschlechter ist ein Fado-Abend, bei dem Cidália gegen eine junge Sängerin antritt und vergeblich der nichtssagenden Disco-Musik Paroli zu bieten versucht. Unverkennbar trägt sie Züge der griechischen Heroine Antigone. Sie ist eine verletzte, eine verwundete Figur. Über den offenen Schluss seines Films sagt der Regisseur: "Cidália bringt sich nicht um, sie geht. Um sich von allem und allen zu befreien." Josef Nagel
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